Freitag, 20. März 2015

Von den vielen Verlorenen

100_9593Ich empfand Schuldgefühle, weil ich sie vergessen hatte [...]. Es schien unmöglich und doch möglich - dass irgendwann eine Zeit kommen würde, in der ich Kaffee trinken, mich in ein Buch vertiefen, mit einer Freundin lachen, mich über ein paar neue Schuhe freuen, eine Wandfarbe aussuchen, mir der Hand über einen Samtvorhang streichen und das Gefühl genießen könnte. Das denkt Mutter Beth in "Das Mädchen, das rückwärts ging" von Kate Hamer, als ihre Tochter Carmel 90 Tage verschwunden ist.
Insgesamt vergehen fünf Jahre und 215 Tage, 100_9594bis sie ihre Tochter wieder in die Arme schließen wird. Ich muss diesen Spoiler leider begehen, da ich selbst mit diesem Happy End nicht mehr gerechnet hätte. Ein ganzes Wochenende hat mich der Roman gefesselt, und das von Seite eins. Abwechselnd schildert die Autorin die Erlebnisse von Mutter und Tochter, von einem beliebigen Moment in ihrer (noch) gemeinsamen Vergangenheit, über den Moment des Verlorengehens, bis hin zur Zeit der Trennung. Danach bleibt alles offen. Das ist ein wenig unbefriedigend. Muss aber so sein, weil im Grunde alles gesagt ist. Warum aber fesselt der Roman so? Weil wir Leser endlich auch einmal eine andere Perspektive kennen lernen. Immerzu fragen wir uns: Wie kann ein kleines Mädchen in einem auffälligen roten Mantel verloren gehen? Wie kann es, trotz Warnungen und wider besseren Wissens, mit einem fremden Mann mitgehen? Und vor allem fragen wir uns: Wie führt sie ihr Leben in der Zeit ihrer Abwesenheit? So oft bekommen wir nur die Perspektive derer zu lesen, die zurück bleiben müssen, Kate Hamer schenkt auch denVerlorenen eine Stimme. Und das noch in einer wunderbaren Sprache und voller wunderbarer Bilder. Ein bisschen ist es, als hätte ich Carmel selbst verloren und sie nach langer Zeit wieder gefunden... 
100_9591Dieses Buch hat mich nicht nur fasziniert und begeistert, sondern bis zur letzten Seite gefesselt. Bisher ist dieser Roman so früh im Jahr schon mein absolutes Lesehighlight und meine uneingeschränkte Leseempfehlung! Noch dazu kommt, wie wunderbar der Verlag mich mit dem Buch überrascht hat. Der Versandkarton war beklebt mit einem Bild des Romans, über dem groß "Wo bist Du?" stand. Dazu gab es eine wunderbare Hörprobe, die richtig Lust auf mehr gemacht hat, sowie ein tolles Interview mit der Autorin.100_9592

Das Mädchen, das rückwärts ging, Arche

ISBN-13: 978-3-7160-2724-0

Dienstag, 17. März 2015

Eine Lanze für das Theater brechen

Wirklich lange war ich nicht mehr im Theater. Zu lange. Das liegt nicht nur am zu langen Winter, sondern auch an meiner Angst vor langweilig inszenierten Stücken, an zu viel Modernität oder an mangelndem Respekt der Texte gegenüber (ich kann eben als Germanistin nicht aus meiner Haut).  Dann aber die Frage, ob ich einen Deutschkurs meines ehemaligen Gymnasiums ins Theater begleiten würde. Das Stück habe ich bereits mit SchülerInnen erarbeitet: Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing.Ich sagte zu, blieb aber erst einmal skeptisch.
Das Bühnenbild, weiße Wände, die Räumlichkeit simulieren und in den Zuschauerraum hinein ragen, unterbrochen von schwarzen Balken, welche (unterbrochene) Lebenswege  - und ich bin zwar noch skeptisch, aber nicht mehr "unüberzeugbar". Und dann die große Überraschung: Der Prinz von Guastalla (galant; mal naiv, mal sich nehmend, was er als Monarch will [und mein absolutes Highlight]: Klaus Rodewald) tritt auf, eher den schönen Künsten zugetan, als dem Regieren und singt mit der bühneneigenen One-Woman-Musikerin eine Akkustikversion von David Bowies "Where are we now?". Es tritt auf, der geschäftige Kammerherr Marinelli (herrlich ironisch, lakonisch und spitzfindig: Reinhard Mahlberg). Und obgleich er für den Prinzen arrangiert, Fäden und Strippen zieht und letztlich für das Ableben des Verlobten von Emilia Galotti, des Grafen Appiani (stirbt stilvoll und mit viel Blut: Matthias Thömmes), verantwortlich ist, mag man ihn. 
Das Stück arbeitet klar die Kindlichkeit der Emilia Galotti heraus, und das nicht zuletzt wegen der bezaubernden und zerbrechlichen Anne-Marie Lux, die ihre Figur irgendwo zwischen kindlich-rotznäsig und aus-dem-Elternhaus-ausbrechen-wollen ansetzt. Aber auch ihre (unterdrückte) Weiblichkeit wird endlich klar (nicht zuletzt im gelb-farbenen Hochzeitskleid). Bei Lessing scheint Emilia noch standhafter, in der Inszenierung von Elmar Goerden ist sie es nicht. Denn, auch sie ist "jung, so jung". Ihre "Sinne sind auch Sinne", ihr Blut warm. Und daher erliegt sie hier auch den Avancen des Prinzen in sexueller Hinsicht. Darüber verzweifelt der sittenwütige Vater schier, nichtsahnend die Mutter, die irgendwo zwischen Matrone und machtgeil chargiert. Und mittendrin die Betrogene, Orsina, einstmals Geliebte des Prinzen, nun klarer bei Verstand als je zuvor und doch dem Wahn so nah. Dass Emilia am Ende des Trauerspiels ins offene Messer ihres Vaters laufen muss, ist in dieser Inszenierung noch weniger zu vermeiden, als in Lessings Stück. 
Tja, und da sitzen wir dann im dunkeln Theatersaal und trauen uns nicht so richtig, Applaus zu spenden, wo er doch so verdient ist. Zu schnell ist das Stück vorbei gegangen, zu Vieles muss und könnte noch darüber gesagt werden. Und auf dem Heimweg fällt auf, dass tatsächlich vom einstigen Stück (und seinem Originaltext) stehen nur noch die Grundmauern. Aber es hat mich nicht gestört. Im Gegenteil. Zwei Mal habe ich das Stück gesehen und ich würde es wieder tun. Und ab jetzt gehe ich öfter ins Theater - das sollten Sie auch tun!
Theaterkarten für das Nationaltheater Mannheim: https://www.nationaltheater-mannheim.de/de/
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